Detailprobleme der Koedukation bei Rousseau, Klafki und Faulstich-Wieland.

Das Erzieher-Zögling-Verhältnis ist bei Jean-Jacques Rousseau (1712-1778) männlich konnotiert, da der bei Rousseau zu erziehende Zögling der Junge Émile ist. Eine Erziehung und Bildung für Mädchen hat es bei Rousseau (1958) nie gegeben. Mädchen wurden bei Rousseau überhöht dargestellt, sie standen bei ihm außerhalb von Gesellschaft, nahe an der Natur (Rousseau, 1988). Rousseaus deduktiver pädagogischer Ansatz, welcher durch die Ableitung von Bildungszielen aus der Natur (anstelle von Gott) begründet wird, blendet Geschichte aus und stellt somit eine totalitäre Pädagogik dar. (Zum Begriff der Totalität siehe Levinas, 2002). Das, was mir von Rousseau in Erinnerung bleiben wird, ist seine optimistische Anthropologie und seine Kritik an der feudalistischen Gesellschaft Frankreichs im 18. Jahrhundert.

Wolfgang Klafki hat im Rahmen seiner bildungstheoretischen Didaktik eine allgemein grundlegende Bildungstheorie entworfen, mit für den Bildungsprozess an sich grundlegenden und richtungsweisenden Prinzipien. Jedoch fehlt auch bei Klafki ein kleines Detail: die bildungstheoretische Befassung mit der Frage, wie Mädchen und Jungen gebildet werden könnten, schließlich befinden sich im Rahmen koedukativer Settings – wie es sie auch zu Klafkis Zeiten bereits gab – sowohl Jungen als auch Mädchen in der Schulklasse. Die von Klafki allgemein formulierten Prinzipien der Selbstbestimmung, Mitbestimmung und Solidarität, welche von ihm als Zielentscheidung für Bildungsprozesse angesehen werden haben nach meiner Auffassung eine geschlechtsblinde Allgemeingültigkeit. Die Ergebnisse der Empirischen Bildungsforschung (vgl. Krohne et al., 2004; vgl. Faulstich-Wieland, 2004) zeigen jedoch deutlich, dass es nicht unbedeutend ist, ob es sich beim Edukandus um ein Mädchen oder einen Jungen handelt. Die Bildungserfolge von Mädchen und Jungen sind ungleich verteilt. Mädchen sind formal höher qualifiziert als ihre männlichen Mitschüler, „verlieren“ sich aber nach dem Schulabschluss aufgrund des Zusammenspiels mehrerer Sozialisationsfaktoren (Tillmann) bei der Aufgabe, den erzielten, formalen „Bildungserfolg“ am Arbeitsmarkt „umzusetzen“. Jungen dagegen weisen die höhere Quote an Schulabgängern ohne Abschluss auf. An dieser Stelle verzichte ich bewusst auf weitere Faktoren wie zum Beispiel soziale Herkunft, welche eine doppelte (vgl. Becker-Schmidt, 2004) bzw. mehrfache Vergesellschaftung darstellen.

Der Kritik an der Geschlechtsblindheit des deutschen Schulsystems hat sich Faulstich-Wieland in ihrem Konzept der Reflexiven Koedukation angenommen – mit dem Interesse, die bestehende Koedukation weiterzuentwickeln. Ihr Verdienst ist es, dem Allgemeinen der Klafkischen Bildungstheorie das Besondere hinzugefügt zu haben. Faulstich-Wieland spricht von einem Wechsel zwischen Dramatisierung und Entdramatisierung von Geschlecht im Unterricht als mögliche Antwort eines empirisch nachgewiesenen doing gender in koedukativen Settings. Meine Kritik an diesem Konzept besteht darin, dass es für Lehrerinnen und Lehrer keinen Orientierungsrahmen gibt, in welcher Situation dramatisiert oder entdramatisiert werden soll, um eine erneute Reproduktion von Geschlechtsrollenstereotypen zu vermeiden was die „Modernisierung von Schule“ (Brüsemeister und Eubel, 2003) allein durch Reflexive Koedukation erschwert bis hin zu unmöglich macht. Nach meiner Auffassung wäre eine zunächst organisatorisch umgesetzte temporär-monoedukative Unterrichtsgestaltung (eventuell vormittags/nachmittags) über alle Fächer und im Rahmen einer gebundenen Ganztagsschule ein möglicher Weg, um für Lehrerinnen und Lehrer einen äußerlichen Orientierungsrahmen zu schaffen und Formen des doing gender abzufedern. Eine bildungstheoretische Legitimation – die ich apriori für diesen Ansatz erforderlich halte – gibt es dazu jedoch (noch) nicht. Mit anderen Worten: Es fehlt meines Erachtens in der deutschsprachigen Erziehungswissenschaft im Anschluss an Faulstich-Wieland (2004) und Klafki (1996) eine geschlechtergerechte Bildungstheorie 2. Grades (erkenntnistheoretisch, unhistorisch) um das Besondere im Zusammenhang mit dem Allgemeinen zu begründen – denn ohne Bildungstheorie existiert keine Pädagogik.

Martina Wehling M.A., Bremen, Datum der Veröffentlichung 26.09.2023, aktualisiert 20.10.2023

Literatur

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Brückenschläge zwischen Privat- und Erwerbsleben. In: Becker, Ruth/Kortendiek, Beate (Hg.):
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Brüsemeister, Thomas. Eubel, Klaus-Dieter. 2003. Zur Modernisierung der Schule. Leitideen – Konzepte – Akteure – Ein Überblick. Bielefeld. Transcript

Faulstich-Wieland, Hannelore. 1991. Koedukation – enttäuschte Hoffnungen? Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft

Faulstich-Wieland, Hannelore; Weber, Martina; Willems, Katharina; Budde, Jürgen. 2004. Doing gender im heutigen Schulalltag. Empirische Studien zur sozialen Konstruktion von Geschlecht in schulischen Interaktionen. Weinheim und München. Juventa. Veröffentlichung der Max-Träger-Stiftung, Band 39

Faulstich-Wieland, Hannelore. 2006. Reflexive Koedukation als zeitgemäße Bildung. In: Otto, Hans-Uwe; Oelkers, Jürgen; Bollweg, Petra (Hg.). Zeitgemäße Bildung. Herausforderung für Erziehungswissenschaft und Bildungspolitik. München. Reinhardt Verlag. S. 261-274

Klafki, Wolfgang. 1996. Neue Studien zur Bildungstheorie und Didaktik. Zeitgemäße Allgemeinbildung und kritisch-konstruktive Didaktik, 5. unveränd. Auflage. Weinheim und Basel. Beltz

Klafki, Wolfgang. 2002. Schultheorie, Schulforschung und Schulentwicklung im politisch-gesellschaftlichen Kontext. Ausgewählte Studien. Herausgegeben von Barbara Koch-Priewe, Heinz Stübing und Wilfried Hendricks. Weinheim und Basel. Beltz

Krohne, Julia A.; Meier, Ulrich; Tillmann, Klaus-Jürgen: Sitzenbleiben, Geschlecht und Migration – Klassenwiederholungen im Spiegel der PISA-Daten – In: Zeitschrift für Pädagogik 50 (2004) 3, S. 373-391 – URN: urn:nbn:de:0111-opus-48161 – DOI: 10.25656/01:4816, Zugriff vom 26.09.2023

Lévinas, Emanuelle. 2002, 3. Auflage. Totalität und Unendlichkeit. Versuch über die Exteriorität. Alber Studienausgabe. Freiburg und München

Rousseau, Jean-Jacques. 1958. Emile. Vollständige Ausgabe von J. Esterhues. Paderborn. Schöningh

Rousseau, Jean Jacques. 1988. Julie oder die neue Heloise. München. dtv klassik 2191

Rousseau, Jean-Jacques. 2010. Du contrat social ou Principes du droit politique. Vom Gesellschaftsvertrag oder Grundsätze des Staatsrechts. Französisch/Deutsch. In: Reclams Universal-Bibliothek. Band 18682. Stuttgart. Philipp Reclam jun.

Schmid, Pia. 1992. Rousseau Revisited. Zeitschrift für Pädagogik, Jg. 38, Nr. 6

Tillmann, Klaus-Jürgen. 2001. Sozialisationstheorien. Eine Einführung in den Zusammenhang von Gesellschaft, Institution und Subjektwerdung. Reinbek bei Hamburg. Rowohlt