Erfahrungsbericht über das Auffinden und Bearbeiten von Feldpost 1941-1945

Nachdem mein lieber Vater Werner (*1929) im Juli 2017 im Alter von 87 Jahren seine letzte Ruhe gefunden hatte, war ich nach seinem Tod mit der leidlichen Aufgabe betraut, ein altes Handwerkerhaus zu entrümpeln. Bei der Durchsicht des Hauses stieß ich im Spätsommer 2017 in einer Abseite neben dem Dachboden auf alte Feldpost-Briefe und Skizzen vom älteren Bruder meines Vaters, meinem Opa und meinen Urgroßeltern. Dass mein Onkel Alfred (*1925) als junger Mann nicht aus dem Krieg zurückgekehrt war und nicht geklärt werden konnte wie Alfred ums Leben gekommen ist, wusste ich. Auch dass meine Familie in den 1970ern vergeblich einen Suchauftrag über das Rote Kreuz gestellt hat, weiß ich, solange ich denken kann. Mein Vater hat mir nur von einem einzigen Brief erzählt, der kurz vor Kriegsende zuhause eintraf mit dem Inhalt, dass an der Front „die Hölle“ los sei. Diesen letzten Brief habe ich leider nicht im Nachlass meines Vaters gefunden, jedoch hat mein Opa eine Notiz auf einem Foto von Alfred hinterlassen mit Alfreds Geburtsdatum und dem Datum seiner letzten Nachricht (22. März 1945 bei Danzig).

Dass diese umfassende, gut erhaltene Sammlung von Briefen, Skizzen und kleinen mit Öl gemalten Postkarten vorhanden ist, wusste ich nicht. Entsprechend groß war das Staunen, als ich den Karton 2017 auf dem Dachboden entdeckte – und kurz danach machte sich ein gewisses Unbehagen breit, denn ich wusste überhaupt nicht, was mich erwartet und ob ich jemals in der Lage sein würde, sie zu lesen. Bis dahin wusste ich noch nicht einmal, welche Bedeutung Feldpost in der deutschen Geschichte hat. Die Entscheidung, die Briefe aufzubewahren war leicht, auch sie in einen neuen Karton umzulagern mit zahlreichen schwarz-weiß Postkarten, alten Schulbüchern welche sich als Notstands-Ausgaben der Alliierten erwiesen, war nicht schwer. Der Zeitpunkt, an dem ich den Karton wieder öffnen wollte um mir in Ruhe die Briefe von Onkel Alfred anzusehen, war jedoch unbestimmt. Dies alles fand im Herbst 2017 statt.  Die mehr als 80 Jahre alte Feldpost lagerte also zunächst in einem Umzugskarton und geriet aufgrund der Ende 2019 herannahenden Corona-Pandemie in Vergessenheit. Die Angst vor dem Virus, der erste Lockdown, welcher sich anfühlte wie eine Vollbremsung bei Tempo 120 waren bedeutender als die Aufarbeitung der Erinnerungen an Onkel Alfred. Kurz vor dem ersten Lockdown lernte ich im Februar 2020 Ingrid Meyer-Legrand im Rahmen eines Weiterbildungsseminars in Hannover kennen und danach im Rahmen ihrer Kriegsenkel-Livecalls auch weitere Menschen, die sich mit gefundener Feldpost beschäftigen. Spätestens von da an stand für mich fest, dass ich die Briefe aus dem Karton holen werde und sie aufbereiten werde – in welcher Form stand damals noch nicht fest. Rudi Geisler vom Freundeskreis des Schulmuseums Bremen hat mich ebenfalls darin ermuntert, die Briefe zu veröffentlichen. Im November 2022 kontaktierte ich Dr. Veit Didczuneit vom Museum für Kommunikation in Berlin, welches ein Feldpost-Archiv besitzt und fragte nach wissenschaftlichem Rat. Anschließend öffnete ich beherzt die Kiste mit den Briefen – um sie zunächst ganz gewissenhaft nach Datum zu sortieren. Allerdings gelang mir diese sachorientierte Herangehensweise in keiner Form, denn ich blieb sofort beim ersten Brief stecken und begann zu lesen und zu lesen und über die tollen Zeichnungen zu staunen, vor allem über Onkel Alfreds selbst ernannten „Soldatenhumor“. Eine befreundete Historikerin, die ich vom Basketball kenne, hat mir zu dem Zeitpunkt geraten, die Briefe in einen säurefreien Karton umzulagern und dann auch zu digitalisieren. Je öfter ich – inzwischen mit Archivhandschuhen ausgestattet – in die Briefe schaute, desto mehr ergab sich das Zusammenfügen eines Mosaiks einer langen Familiengeschichte. Die unsortierten Briefe brachten also Licht in längst vergangene Zeiten. Mein Vater hat in seinem Leben stets den Anschein erweckt, dass ihn so leicht nichts erschüttern könnte, jedoch weiß ich, dass, wenn es um emotional schwierige Themen ging, er diese emotionalen Aufgaben gerne an mich weitergeleitet hat mit dem Hinweis: „Entscheide Du!“. Ich kann mir vorstellen, dass er über die Feldpost ähnlich gedacht hat und sie deshalb aufbewahrt hat. Dafür bin ich ihm heute zutiefst dankbar. Viele Jahre vor seinem Tod habe ich ihn mehrfach gefragt, ob ich nochmal eine Anfrage beim DRK-Suchdienst stellen soll, aber er hat abgelehnt. Die noch erhaltenen, gerahmten Bilder, die Alfred gemalt hatte, hingen in den letzten Jahren in Werners Haus im Flur – vielleicht wollte er ein letztes Mal seinen Bruder in seiner Nähe haben? Gesprochen hat er darüber nie. Vielleicht fehlte ihm auch einfach ein Ort der Trauer.

Die Skizzen in Mixed Media Art habe ich erst im August 2023 gefunden, sie waren fein säuberlich in einem Feldpost-Briefumschlag verstaut. Allerdings merkt man, dass sie immer mal wieder in die Hände genommen worden sind, denn sie sind sehr widerstandsfähig und nahezu konserviert. Ein Großcousin hat mir im August 2023 erzählt, dass er als kleiner Junge oft neben meiner Oma auf dem Sofa gesessen hat und mit ihr zusammen die Briefe und Skizzen von Alfred angesehen hat. Er hat sich sehr gefreut zu hören, dass diese noch erhalten sind. Vielleicht gibt es in den folgenden Jahren die Gelegenheit für eine Ausstellung der Skizzen. Ich habe in 2023 viele Sonntagabende mit der Historikerin Ann-Christin Hirsch verbracht um auch eine historische Sichtweise auf die Briefe zu bekommen. Die Feldpost und die Skizzen sowie Fotos und zusätzliche Dokumente habe ich im Januar 2024 dann endlich im Staatsarchiv Bremen digitalisiert und beschlossen, alles im Printverfahren aufzubereiten und sie interessierten Dritten zugänglich zu machen. Eine im Internet frei zugängliche Online-Version der Briefe und Skizzen wird es nicht geben.

                                                                                                       Martina Wehling, Bremen, Germany, den 05.04.2024