Globalisierung bei Roland Robertson und Anthony Giddens – ein Vergleich.

Das Thema Globalisierung hat in den letzten Jahren, beginnend durch die weltweite Finanzkrise, die ca. 2007 ihren Ursprung in den USA hatte, anschließend durch die Corona-Pandemie, welche seit 2019 die Welt verändert hat sowie zuletzt durch die Insolvenz der Silicon Valley Bank in den USA zu Beginn 2023 und der dadurch erneut ausgelösten Diskussion um `too big to fail` eine Aktualität erfahren, die dazu führte, dass die Ursache dieser „Szenarien“ in diesem Phänomen gesucht wird. Der Begriff der Globalisierung ist inzwischen geradezu populär.

Roland Robertson – ein schottischer Soziologe –  hat sich umfassend mit den soziologisch-theoretischen Hintergründen von Globalisierung befasst. Anthony Giddens – ein britischer Soziologe – hat eine sogenannte Gegenwartsdiagnose vorgelegt. Giddens ist nach meiner Auffassung gut geeignet für einen theoretischen Vergleich mit Robertson, da er sich ausführlich mit den sogenannten ‚Konsequenzen der Moderne‘ – Globalisierung wird von ihm als eine betrachtet – beschäftigt und auch in Deutschland Dank der Nähe zum Soziologen Ulrich Beck sowie einem recht zugänglichen Stil breit rezipiert wurde.

Der Vergleich zwischen Robertson und Giddens erfolgt – nachdem es einen Überblick über zentrale Begriffe, Eigenschaften und Ursachen von Globalisierung gibt – anhand der Fragen, wie sich Globalisierung auf das Bewusstsein der Individuen auswirkt und welche Bedeutung Globalisierung auf die Existenz von Nationalstaaten hat.

1. Theoretische Ausgangsbasis

1.1  Robertson

Robertson wird als Gründungsvater des soziologischen Globalisierungsdiskurses angesehen (Beck 1997, S. 13). Er unterscheidet zwischen Globalisierung und Globalität, wobei er mit Globalität den räumlich-materiellen Aspekt betont. Hierbei wird sich das Individuum der Endlichkeit und räumlichen Beschaffenheit des Planeten Erde bewusst (ebd.)

Robertson besteht auf einer klaren Abgrenzung zu Wallersteins Weltsystemtheorie, welche als Makrotheorie mit universellem Anspruch gelten kann, indem er das Modell des ‚global field‘ einführt und Globalisierung als einen unabschließbaren Prozess beschreibt, an dem eine Vielzahl individueller und kollektiver Akteure beteiligt sind (Dürrschmidt 2002, S. 57). Robertson gehört zu den Theoretikern, die eine Logik zur Erklärung von Globalisierung heranziehen und nicht wie andere komplexe oder multikausale Logiken der Globalisierung vertreten. Robertson argumentiert in der Tradition der cultural theory, der Vorstellung einer McDonaldisierung der Welt wird widersprochen.

Für Robertson beinhaltet kulturelle Globalisierung nicht die kulturelle Homogenisierung der Welt, sondern Glokalisierung (Beck 1997, S. 61- 63).

Robertson baut auf Parsons Systemtheorie auf, diese soll für seine eigene Globalisierungstheorie fruchtbar gemacht werden. Er unterscheidet sich hinsichtlich der Rolle von Kultur im Globalisierungsprozess von Giddens und Wallerstein in der Ausrichtung einer global orientierten Soziologie. Robertson ist Pionier einer Globalisierungstheorie, lange bevor der Begriff in den 1990er Jahren populär wurde. Er ist stark theoretisch ausgerichtet und erweiterte den strukturfunktionalistischen Ansatz von Parsons um einen International- Relations-Ansatz. Modernisierung wurde demnach nicht mehr allein aus innerer Logik des Systems verstanden, sondern durch reflexive Zielsetzung aus Vergleich und Beispielnahme im internationalen Bezugsrahmen. Es ging Robertson dabei um eine sociology of international relations (Dürrschmidt 2006, S. 519-520). Verknüpft mit dieser Herangehensweise strebt Robertson die Sichtweise von Religion als Kultur an, Religion ist für Robertson eine kulturelle Form, durch die die Welt erfahren wird. Robertson interessiert sich dabei für die Stellen, an denen Religion zu widerstreitenden Deutungsmustern des sich formierenden internationalen Systems führt sowie die Stellen, an denen Religion als Orientierungsmuster in der komplexen Welt wird. Der Forschungsfokus von Robertson liegt zwischen der ‚cultural sociology‘ und ’sociology of international relations‘. Er ist auf der Suche nach soziokulturellen Ordnungsmustern einer sich internationalisierenden Gesellschaft. Ebenfalls geht es Robertson um die Frage nach einer kollektiven und personalen Identitätsfindung vor dem erweiterten Weltbezug (Dürrschmidt 2006, S. 521). Globalisierung wird bei Robertson (wie auch bei Giddens) als ein potentiell offener Prozess verstanden, der nicht eindimensional durch die kausale Logik eines politisch oder ökonomisch definierten Weltsystems erklärbar ist (ebd.). Robertson grenzt sich von Giddens ab, indem er die Perspektive der Kultur betont als eigenständige Dimension der Globalisierung. Dies fehlt bei Giddens (ebd.).

1.2   Giddens

Anthony Giddens hatte zunächst eine Theorie der Strukturierung vorgelegt und damit für ein eigenständiges Paradigma innerhalb der Soziologie gesorgt. Inhaltlich ist Giddens stark an Parsons und Marx orientiert, jedoch beteiligt er sich nicht an der seit Ende der 1960er in der Soziologie vorherrschenden Frage, ob man noch von Klassen sprechen kann. Vielmehr interessiert sich Giddens für den Begriff der Strukturierung (Treibel 2004, S. 254). In der Theorie der Strukturierung versucht Giddens eine Überwindung der Dualität von Mikro- Makrotheorie, die sich auch in Subjektivität und Objektivität widerspiegelt. Dabei zielt er nicht auf eine Kombination von beiden ab, sondern sucht nach einem neuen Ausgangspunkt. Sein Anspruch besteht darin, eine neue Sozialtheorie zu entwerfen (a.a.O., S. 257). Ab 1984 konzentrierte sich Giddens auf Themen der Modernisierung und Globalisierung. Er sieht in diesen beiden einen tiefgreifenden Wandel von gesellschaftlichen Institutionen, Lebensbedingungen und Orientierungen von Individuen (Miebach 2006, S. 376). Die Moderne ist nach Giddens in ihrem Wesen auf Globalisierung angelegt, da ihre Institutionen die Eigenschaften der Entbettung und Reflexivität aufweisen (Giddens 1996, S. 84).

Von Wallersteins Weltsystemtheorie grenzt Giddens sich ab, indem er nicht nur den Kapitalismus als weltumspannende Einflussgröße betrachtet, sondern auch die sozialen Beziehungen zwischen den Nationalstaaten als Auslöser einer globalisierten Weltordnung analysiert (Giddens 1996, S. 91-92). Die kapitalistische Weltwirtschaft betrachtet Giddens – im Gegensatz zu Wallerstein, der diese als einzige Dimension von Globalisierung beschreibt – nur als eine von vier Dimensionen der Globalisierung. Neben der Dimension der kapitalistischen Weltwirtschaft und der Dimension der Nationalstaaten fügt Giddens noch die Dimension der Militärischen Weltordnung und die Dimension der internationalen Arbeitsteilung als Determinante von Globalisierung ein (a.a.O., S. 93). Giddens verfolgt eine lnstitutionenanalyse der Moderne, um deren Konsequenzen freizulegen (Kron 2000, S. 201). Eine Radikalisierung der Moderne ergibt sich dadurch, dass Entbettung, Vertrauen, Entkoppelung von Raum und Zeit extrem gesteigert werden und zu Transformationen in den Dimensionen Kapitalismus, Industrialismus, Überwachung und Kontrolle führen. Diese Veränderungen fasst Giddens insgesamt als Globalisierung auf (Kron 2000, S. 202-203).

2. Zentrale Begriffe, Eigenschaften und Ursachen von Globalisierung

2.1   Robertson

Globalisierung bedeutet bei Robertson nicht nur De-Lokalisierung, sondern es wird Re-Lokalisierung vorausgesetzt. Global heißt dabei translokal, an mehreren Orten zugleich (Beck 1997, S. 86). Der Bezugsrahmen, in dem sich die Bedeutung des Lokalen erweisen muss, ändert sich, daher kann es nicht um einen Weiter-so- Traditionalismus gehen beim Übergang in die globale Ära (a.a.O., S. 87). Robertson ist der Auffassung dass Globalisierung fälschlicherweise als Makrophänomen betrachtet wird, was einen triumphalen Sieg der Kräfte kultureller Homogenisierung beinhaltet. Dies führt auch dazu, dass Lokalität und Geschichte ausgelöscht werden, was durch die Forderung nach einer globalen Soziologie noch verstärkt wurde.

Stattdessen bedarf es nach Robertson des Begriffs der Glokalisierung (Robertson 1998, S. 192-193).

Der Begriff der Glokalisierung, den Robertson einführt, stammt aus dem Japanischen und bezeichnete dort ursprünglich das landwirtschaftliche Prinzip. Er wurde ins japanische Geschäftsleben übernommen als globale Lokalisierung: Anpassung einer globalen Perspektive an lokale Umstände. Dieser Begriff wurde zum wichtigsten Marketing-Wort der frühen 1990er Jahre, verwendbar für Mikro-Marketing, als Strategie auf der Suche nach globalen Märkten. Nach Robertson dürfen Globales und lokales jedoch nicht als etwas Oppositionelles aufgefasst werden. Vielfalt ist das Prinzip, das erlaubt, dass lokal Verwurzelte bei ihren

jeweiligen Kulturen bleiben. Kosmopoliten sind stark von anderen abhängig, die spezielle Nischen für ihre Kulturen ausmachen. Es gibt keine Kosmopoliten ohne Lokalisten. Das Lokale kann als ein Aspekt des Globalen angesehen werden. Globalisierung wie bei Giddens als Konsequenz der Moderne zu denken, führt nach Robertson in die Polarisierung (a.a.O., S. 197-200). Der Begriff der Glokalisierung misst der Frage des Raumes eine vergleichbare Erwägung zu wie zeitlichen Erwägungen. Der Begriff kann die ganze Welt umfassen (a.a.O., S.

216). Die Bearbeitung des Verhältnisses lokal/global ist immer drängender geworden, da dem Raum mehr Bedeutung zukam als der Zeit. Davon zeugt auch das Interesse an der Postmoderne (a.a.O., S. 203-204). Robertson kennt keinen Grund, Globalisierung als Homogenisierung zu definieren. Die Bildung einer Welt erfolgt stattdessen seit vielen Hunderten, Tausenden von Jahren (a.a.O., S. 207).

Der Begriff der Globalität ist die Verdichtung der Welt als Ganzer, entstanden aus der Verknüpfung von Lokalitäten. Robertson bezieht Globalisierung auf vier Hauptelemente: Gesellschaft, Individuen, internationales System von Gesellschaften, Menschheit (a.a.O., S. 208). Globalität führt nach Robertson zu Anerkennung von Raum und Zeit, Globalisierung als Konsequenz der Moderne zu betrachten, stellt nach Robertson eine Schwäche dar. Stattdessen betrachtet Robertson Globalität als allgemeine Bedingung für die Verbreitung von Modernität. Globalität ist die wechselseitige Durchdringung geographisch unterschiedlicher Zivilisationen (a.a.O., S. 194-196). Die Auseinandersetzungen um globale Homogenisierung und Heterogenisierung lehnt Robertson als überholt ab. Es geht darum, wie beide zur Charakteristik des modernen Lebens geworden sind. Beide Tendenzen durchdringen einander. Es geht um die Frage, wie das Universale und das Partikulare miteinander in Verbindung gebracht werden können (a.a.O., S. 196).

Als Abgrenzung zu Harveys ‚time-space-compression‘ und Giddens ‚time-space-distanciation‘ kann Robertsons ‚global field‘ verstanden werden. Hierbei handelt es sich um ein Bezugsfeld unterschiedlicher im globalen Kontext operierender Akteure.

„Globalization as a concept refers both to the compression of the world and the intensification of consciousness of the world as a whole.“

(Robertson 1992, S. 8). Hieran wird deutlich, dass Robertson auf materielle Faktoren, die die Welt zusammenhalten, verzichtet und stattdessen das Bewusstsein der Welt als Ganzer hervorhebt. Diese Wahrnehmung führt in ihrer Handlungskonsequenz zum Zusammenrücken der Welt. Der Globalisierungsprozess ist gekennzeichnet als materielle Interdependenz bei gleichzeitigem Bewusstsein darüber (Dürrschmidt 2006, S. 522). Durch diese Sichtweise wird die conditio humana an die geweckte Aufmerksamkeit und Bewusstheit für Globalität gebunden (ebd.). Kritisch anzumerken ist hierbei, dass Robertson vage bleibt, wie diese Bewusstheit zustande kommt, diese läuft jedoch nach Robertson ins leere, sofern nicht auf materielle und infrastrukturelle Verbundenheit reflektiert wird. Robertson zielt auf die Verknüpfung von Relevanzstrukturen, er spricht von global unicity anstelle von global unity (ebd.).

Im globalen Feld finden sich vier nicht hierarchisch angeordnete Koordinaten, in deren Zusammenspiel sich der Prozess der Globalisierung entwickelt:

1. Individuum, 2. (National-) Gesellschaften, 3. Internationales System der Gesellschaften, 4. Menschheit

Das globale Feld ist durch einen universalism-partikularism-Nexus strukturiert. Dabei handelt es sich um die Aneignung universeller Werte, Praktiken und Institutionen im Kontext regionaler und lokaler lebensweltlicher Gemeinschaften bei gleichzeitiger Verteidigung von lokalen und regionalen Identitätsformen auf globaler Bühne (Dürrschmidt 2006, S. 523).

  • Universalisierung von Partikularem: (globale Lokalisierung): entspricht zunehmender globaler Verbreitung nationalistischer und fundamentalistischer Bewegungen, z.B. weltweite Organisation des Kampfes um Rechte ethnischer Minderheiten und Ureinwohner, internationale Interpretation von Shakespeare.

  • Partikularisierung des Universalen: (lokale Globalisierung) :  entspricht flexibler Zuschneidung globaler Konsumangebote für lokale Geschmäcker, z.B. lokalspezifische Gestaltung von Mc Donald’s, CNN, Hollywood.

Im globalen Feld findet sich eine strukturale Kontingenz von Situationsdefinitionen und Identitätsfindungen im Weltbezug. Die Verortung im globalen Feld kennzeichnet die conditio humana. Statt einer substantiellen Definition von Kultur plädiert Robertson für Kultur als einem offenen und pluralistischen Prozess (ebd.).Die strukturelle Rahmung des globalen Feldes durch den universalism-particularism- Nexus verhindert einen bedingungslosen Relativismus. Bei der Frage nach Homogenisierung oder Heterogenisierung als Resultat von Globalisierung spricht Robertson von difference-within-sameness.

Heterogenität und Homogenität sind demnach komplementär, in konkreten Situationen aber auch unvereinbar miteinander. Die Darstellung von lokaler Differenz und die Unterscheidung kultureller Identität erfolgt anhand globalisierter Anerkennungsprozeduren (Dürrschmidt 2006, S. 524). Da Globalisierung als Phänomen dargestellt wird, dem man wie Giddens ‚juggernaut` hilflos gegenüber steht, erweitert Robertson seinen universalism-particularism-Nexus zu einem global-local-Nexus und leitet eine methodisch-pragmatische Wende ein in der Globalisierung nicht länger als gleichschaltendes Makrophänomen angesehen wird. Von da an spricht Robertson von Glokalisierung. Hierdurch wird die Polarität von Globalem und lokalem aufgehoben in einer Dynamik logischer Gleichzeitigkeit von globaler Lokalisierung und lokaler Globalisierung. Als Beispiel: Flughäfen sind global verbreitet, aber lokalspezifisch eingebettet. Kultur wird als dynamisch verstanden, durch global-local raum-zeitlich konkretisiert. Der empirisch-analytische  Zugriff auf globale Kultur wird dadurch erleichtert, Globalisierung kann somit empirisch entschlüsselt werden als gelebte Realität und partiell gestaltbarer Prozess. Es handelt sich bei Robertsons Ansatz nicht um eine grounded theory, sondern um eine Vorstufe dazu mit einer neuen Perspektive auf Kultur (Dürrschmidt 2006, S. 526). Robertsons Theorie der globalen Kultur ist die einer Konnektivität und Vereinheitlichung (a.a.O., S. 528).

2.2   Giddens

Globalisierung wird bei Giddens dadurch definiert, dass er in ihr eine „Intensivierung weltweiter sozialer Beziehungen, durch die entfernte Orte in solcher Weise miteinander verbunden werden, dass Ereignisse an einem Ort durch Vorgänge geprägt werden, die sich an einem viele Kilometer entfernten Ort abspielen, und umgekehrt.“ (Giddens 1996, S. 85). Globalisierung bezieht sich nach Giddens demnach hauptsächlich auf einen Dehnungsvorgang zwischen Raum und Zeit, in der Weise, dass verschiedene gesellschaftliche Kontexte oder Regionen über die Erdoberfläche als Ganze vernetzt sind (ebd.). Die Entstehungsgründe für Globalisierung liegen für Giddens in der Verbreitung der schnellen Informations-, Kommunikations- und Massenverkehrsmittel. Die Führungsrolle eines rasant angewachsenen spekulativen Finanzkapitals beschwört dabei ein neues globales Zeitalter, welches das soziale Leben zunehmend verändern und bestimmen wird. Nach Giddens leben wir alle ‚on the edge‘. Durch diese beschriebenen Veränderungen entsteht ein neues Strukturprinzip. Dabei wird die Kohärenz der Institutionen, welche im Nationalstaat vorherrschte, aufgelöst und es öffnet sich eine Tür zu einer unbekannten Zukunft (Lamla 2003, S. 103-105).

Zentrale Begriffe in Giddens Theorie stellen Entkoppelung, Entbettung, Radikalisierung und Reflexivität dar.

Den Begriff der Entkoppelung bezieht Giddens auf das Verhältnis von Raum und Zeit, welches im Rahmen von Globalisierung gedehnt wird. Giddens sieht in den Technologien der Moderne die Anlage für strukturelle Kapazitäten, die eine Entkoppelung ermöglichen wie sie sich zum Beispiel an der internationalen Verflechtung der Börse darstellt. Es können dabei Aktien an der Börse in Tokio gehandelt werden und an der Börse in New York der aktuelle Kurs erscheinen (Lamla 2003, S. 107). Die Faktoren Raum und Zeit sind zentral für Giddens Soziologie, sie sind sowohl für Handeln als auch für Strukturen entscheidend. Dabei sind Raum und Zeit keine Randfaktoren, sondern grundlegend für soziales Handeln (Treibei 2004, S. 260). Giddens unterscheidet drei Formen der Räumlichkeit:

  • Regionen (vorder- und rückseitige Regionen, z.B. in einem Restaurant)
  • Räumliche Aspekte des Körpers
  • Örtliche Gegebenheit von Institutionen und Konventionen Regionalisierung stellt dabei die innere Differenzierung von Gesellschaft dar. In verschiedenen Räumen finden unterschiedliche Handlungen statt wobei sich Räumlichkeiten und Zeitlichkeiten dadurch vermischen, dass bestimmte Aktivitäten zu bestimmten Zeiten in bestimmten Orten stattfinden.

Giddens unterscheidet zusätzlich drei Formen der Zeitlichkeit:

  • Lebenslauf
  • Tagtägliche Wiederholung sozialer Aktivitäten
  • Lange Dauer (lang duree) von Institutionen

Soziologische Theorie bedarf nach Giddens einer Raum-Zeit-Perspektive, um Veränderungsprozesse erklären zu können. Im Gegensatz zu vormodernen Gesellschaften, in denen eine große Distanz zwischen zwei Orten viel Zeit für die Überwindung kostete, zeichnen sich moderne Gesellschaften dadurch aus, dass zur Überwindung des Raumes verhältnismäßig wenig Zeit aufgewendet werden muss, z.B. durch die Nutzung von Flugzeugen (Treibel 2004, S. 261-262).

Ein weiterer zentraler Begriff bei Giddens ist der der Radikalisierung. Dieser wird auf die Moderne bezogen, die sich radikal hin zu einer Spätmoderne verändert hat. Die Grundlagen für diese Veränderungen in Form von dynamischen Mechanismen wie raumzeitliche Abstandsvergrößerung, Entbettung, Reflexivität sieht Giddens in den Institutionen der Moderne angelegt. Der Kapitalismus ist dabei weiterhin die treibende Kraft und transnationale Unternehmen sowie nationale Regierungen bleiben vorerst maßgebliche Akteure der politisch- militärischen Weltordnung. Die Institutionen formen sich zu einem Strukturprinzip, das die globalisierte Spätmoderne kennzeichnet. Alte Prinzipien werden durch die Veränderungen überlagert und geraten hierbei zu ihnen in Widerspruch (Lamla 2003, S. 106-107).

Der Begriff der Entbettung ist Teil der Radikalisierung der Moderne und kennzeichnet das Herausheben sozialer Beziehungen aus ortsgebundenen lnteraktionszusammenhängen. Traditionen sind nicht länger handlungsleitend, sondern verlieren ihre lokale Geltungsbasis (Lamla 2003, S.107). Diese Enttraditionalisierung stellt dabei ein wesentliches Strukturmoment des Kapitalismus dar. Die Entbettung trifft soziale Beziehungen, die künftig auf wissenschaftliches Expertenwissen vertrauen, welches an die Stelle der Tradition tritt (ebd.).

Der Begriff der Reflexivität ergibt sich bei Giddens ebenfalls aus der Ausdehnung des Verhältnisses von Raum und Zeit. Durch diese Ausdehnung ergibt sich eine Haltung der Individuen, die sich an Expertenwissen und sozialwissenschaftlicher Erkenntnisgewinnung orientiert. Für alle menschlichen Bereiche gilt, dass Gewissheit nicht mehr aus Erfahrung der Vergangenheit gezogen werden kann, sondern im Lichte neuen Wissens ständig revidiert werden kann. Über die Institutionen wird sich dadurch intensiv ausgetauscht, was auch die Widersprüche, die in ihnen liegen, hervorbringt und lnstitutionenkritik laut werden lässt. Dadurch entsteht eine gesteigerte Reflexion (Lamla 2003, S.110-111).

Durch die Globalisierung entsteht eine kosmopolitische Gesellschaft, deren Konturen bisher nur undeutlich erkennbar sind. Das führt dazu, dass alle herkömmlichen Lebensweisen in Frage gestellt werden, egal wo man lebt. Es handelt sich bei diesen Veränderungen nicht um einen kollektiven Willen, sondern um eine anarchische, ungeregelte Entwicklung, vorangetrieben von einer Vielzahl von Einflüssen (Giddens

2001, S. 31 ).

3. Auswirkungen von Globalisierung auf das Bewusstsein der Individuen

Die Zuordnung der Menschen zu ethnischen Gruppen wird im Prozess der Globalisierung schwieriger. Dadurch dass interkulturelle Beziehungen häufiger werden ist das Einfügen in etablierte Kategorien nicht immer einfach, stattdessen gibt es verschiedene Lebensstile.

Für die Individuen ist das Bewusstsein der Welt als singulärem Platz alltäglich, es herrscht geweckte Aufmerksamkeit und Bewusstsein für Globalität und Zerbrechlichkeit der conditio humana. Es treffen transkulturelle Kommunikations- und Lebensformen, Zurechnungen, Verantwortlichkeiten, Selbst- und Fremdbilder von Gruppen und Individuen aufeinander bzw. werden hergestellt. Ethnische Zuordnungen werden aufgrund der Entwicklungen schwieriger, denn es arbeiten und leben Menschen unterschiedlicher Herkunftsgruppen miteinander. Die Zahl der bikulturellen Partnerschaften steigt, Familienverhältnisse werden bunter, es werden mehr Ehen mit ausländischen Partnern geschlossen und daraus gehen auch mehr Kinder mit ausländischem Elternteil hervor. Somit wächst die Zahl der Transkulturellen. Die Lebensläufe lassen sich nicht in bekannte Kategorien einordnen, was nicht zuletzt zu komplizierten Behördenprozeduren führt sowie zu Pannen und Irrtümern (Beck 1997, S. 88-90). Genau wie die Nationalstaaten haben die Individuen die Wahl zwischen Abschottung oder neuer Identität. Es werden neuartige Gemeinsamkeiten erzeugt, z.B. durch Micky Maus, Coca-Cola, Shell- Boykott. Dies führt zu Erfahrungen eines gemeinsamen Schicksals, das Feme ist unwahrscheinlich nah in einer grenzenlosen Welt (a.a.O., S. 93-95).

3.1   Robertson

Das Bewusstsein der Welt als Einheit war in verschiedenen Perioden der Menschheit immer wieder ausgeprägt (Robertson 1998, S. 208). Im Rahmen der Glokalisierung müssen global produzierende Firmen ihre Produkte lokal binden. Die Fabriken internationaler Konzerne müssen an ihren jeweiligen Standorten Teil der jeweiligen Kultur werden. Die neue Unternehmensstrategie im glokalen Zeitalter heißt Lokalismus (Beck 1997, S. 86). Es geht dabei jedoch nicht um die Wiederbelebung alter Traditionen gemäß Weißwurst, Lederhose und Löwenbräu, sondern es ändert sich der Bezugsrahmen, in dem sich das lokale erweisen muss. Daher wäre die ‚Weißwurst Hawaii‘ ein Weg als Zeichen einer Re-Lokalisierung anstelle eines Weiter-So-Traditionalismus (a.a.O., S. 87).

Die Individuen bekommen im Rahmen der Glokalisierung ein Bewusstsein von der Welt als Ganzer. Die Welt wird zu einem singulären Platz. Die neue conditio humana von der Robertson spricht, hat eine geweckte Aufmerksamkeit für Globalität und die Zerbrechlichkeit dieser conditio humana. Für die Individuen öffnet sich im Rahmen der Globalisierung der Welthorizont (a.a.O., S. 88).

Die Individuen haben als soziale Akteure eine aktive Rolle: sie erzeugen Kultur durch Verfolgung verschiedener Ziele (Dürrschmidt 2006, S. 527). Lebensformen werden transkulturell und treffen aufeinander. Ethnische Zuordnungen werden schwieriger, die Zahl der bikulturellen Partnerschaften steigt, Familienverhältnisse werden bunter (Beck 1997, S. 88-89).

3.2   Giddens

Das Bewusstsein der Individuen in der Globalisierung ist für Giddens kompetent und wissend (Treibel 2004, S. 264).

Trotzdem herrscht in der neuen gesellschaftlichen Gegenwart eine zunehmend skeptische Haltung der Individuen. Skeptisch wird zum Beispiel die Gentechnik betrachtet welche von Vertretern dieser Technologie mit einer verstärkten Vertrauensarbeit beantwortet wird. Dadurch dass die Reproduktionsmedizin das Klonen ermöglicht, wird eine Ungewissheit selbst fabriziert, was dazu führt, dass die damit verbundenen Gefahren nicht mehr einer religiösen Übermacht zugeschrieben werden können, sondern auf die Individuen selbst zurückbezogen werden. Das führt zu einer skeptischen und ambivalenten Haltung der Individuen gegenüber Expertensystemen. Die Individuen treffen in der globalisierten Welt Entscheidungen vor dem Horizont einer ungewissen Zukunft. Daher ist für sie ein Vertrauen in Experten erforderlich genauso wie das gründliche Überdenken von Entscheidungen bei sachlicher Fundierung. Gegenüber der traditionalen Lebensführung sind damit die Entscheidungslasten erheblich gestiegen. Die Individuen erfahren bei Giddens die erweiterten Möglichkeiten einer posttraditionalen Gesellschaft als Verlust. Giddens bezeichnet diese neuen Möglichkeiten aber zugleich auch als Chance, Innovation und Abenteuer. Für die handelnden Individuen intensiviert sich dabei die reflexive Haltung gegenüber ihren Handlungen und gesellschaftlichen Kontexten (Lamla 2003, S. 109- 110). Durch die kapitalistischen Unternehmen werden die Individuen weiterhin von der Kontrolle über ihre Produktionsmittel ferngehalten, dadurch verfestigen sich globale Ungleichheiten (vgl. Giddens 1996). Hinzu kommt, dass den Individuen Arbeitsplatzverlust droht, da aufgrund der Ausweitung der globalen Arbeitsteilung die Länder der Dritten Welt eine Erstindustrialisierung erfahren und Arbeitsplätze dorthin verlagert werden (Giddens 1996, S. 99). Das Geld, das die Individuen in ihrer Tasche haben, ändert seinen Wert mit den täglichen Kursschwankungen an den internationalen Börsen (Giddens 2001, S. 21). Die Beziehung der Menschen zu ihrer Umwelt wird durch die Ausweitung der Maschinentechnik selbst in landwirtschaftlichen Produktionen verändert. Jeder Bewohner der Erde ist von potentiellen ökologischen Gefahren betroffen, die durch Düngemittel, künstliche Anbauverfahren etc. erzeugt werden.                                                                 

Dazu kommt, dass es Veränderungen durch die neu entstandenen Kommunikationsverfahren gibt, die eine kulturelle Globalisierung darstellen. Sie tragen zur Reflexivität der Moderne bei, erzeugen bei den Individuen einen erweiterten geographischen Gesichtskreis und zahlreiche Interessen. Die Individuen können auf den globalen Märkten nur handeln, wenn sie einen gemeinsamen Zugang zu Informationen haben, zum Beispiel internationale Aktienmärkte. Insofern erzeugen die Medien Globalität (Giddens 1996, S. 100-101). Dies führt auch dazu, dass Nelson Mandela eher ein Vertrauter ist, als der Nachbar von nebenan (Giddens 2001, S. 23).

Das Handeln wird bis in die Intimsphäre von Ereignissen beeinflusst, die irgendwo in der Welt passieren. Die Entscheidungen der Individuen haben zugleich weltweite Konsequenzen, indem sie sich zum Beispiel beim Kauf eines Kleidungsstücks entweder auf die internationale Arbeitsteilung oder das Ökosystem der Erde auswirken (Kron 2000, S. 204). Die Individuen sind gefordert, einströmende Informationen zu filtern und darauf aufbauend Handlungsentscheidungen treffen, was zu einer Zunahme sozialer Reflexivität führt. Die Individuen sind aufgefordert, anhand von Entscheidungen ihre eigene Lebensgeschichte zu entwerfen, um so eine kohärente Ich-Identität zu entwerfen. Da diese Entscheidungen nach Giddens nur in Interaktion mit anderen getroffen werden können, entstehen daraus neue Solidaritätsbeziehungen (a.a.O., S.205). Die Individuen sind den Risiken, die sich aus der Radikalisierung der Moderne ergeben, unausweichlich ausgesetzt. Als Beispiel führt Giddens die Unausweichlichkeit auf, bei der Nahrungsmittelaufnahme nicht auf belastete Angebote verzichten zu können (ebd.).

Die Individuen fühlen sich in der neuen Weltgesellschaft machtlos, sie haben Angst und fühlen sich gewaltigen Kräften ausgeliefert. Dies ist jedoch kein Zeichen persönlichen Unvermögens, sondern spiegelt die Mängel der Institutionen wider. Bestehende Institutionen müssen umgebaut werden oder neue müssen geschaffen werden. Globalisierung nach Giddens bedeutet Umwälzung der Lebensverhältnisse, sie bestimmt die Lebensweise der Individuen (Giddens 2001, S. 31-32).

4.       Bedeutung von Globalisierung für die Nationalstaaten

4.1   Robertson

Über die Nationalstaatsgrenzen hinaus kommt es zu wechselseitigen Abhängigkeiten. Statt getrennter Welten gibt es transnationale Interdependenzen (Beck 1997, S. 88). Durch die Globalisierung werden Bindungen erzeugt, es entstehen transnationale, transkontinentale Gemeinschaften. Geographisches und soziales Zusammenleben und Zusammenarbeiten wird getrennt. zusammenarbeiten findet an geographisch getrennten Orten statt. Die Informations- und Steuerhoheit des Staates (Autorität) wird untergraben, örtliche Gemeinden zerfallen. Direkte Nachbarschaften verwaisen, transkulturelle blühen dagegen auf (Beck 1997, S. 92-93).

In den Nationalstaaten entsteht ein weltweiter Diskurs des Lokalen, der Gemeinschaft, Heimat und ähnlichem. Die Dorfgemeinschaft ist im Verhältnis zur Gesellschaft lokal, ebenso ist die Gesellschaft im Verhältnis zum Kulturraum lokal (Robertson 1998, S. 201-202).

Translokale Gemeinschaften gewinnen an Einfluss bei Gestaltung sozialer Räume, auch in nationalen Kontexten. Den Nationalstaaten bleibt die Wahl zwischen Abschottung oder Neubestimmung ihrer Identität im globalen Bezugsrahmen (Beck 1997, S. 93). Es gibt keine abgeschlossenen Einzelgesellschaften mit entsprechenden kulturellen Räumen, sondern gleichzeitig Entgegengesetztes wird möglich und wirklich. Da lokale Kulturen sich nicht einigen können, entsteht ein Zwang zur Re-Lokalisierung von de-traditionalisierten Traditionen. Das Lokale erfährt eine nicht-traditionalistische Renaissance, lokale Besonderheiten werden dabei global verortet (Beck 1997, S. 85-87).

Das Nationale ist der Prototyp des Partikularen und nationale Gesellschaft dabei eine kulturelle Idee. Trotz unterschiedlicher Entwicklungsniveaus haben Nationalstaaten weltweit größte Ähnlichkeiten (Robertson 1998, S. 207).

Kulturelle Botschaften aus USA werden unterschiedlich aufgenommen. Produkte werden auf lokale Märkte zugeschnitten. Nationale symbolische Ressourcen wie z.B. Shakespeare werden weltweit konsumiert und interpretiert, erlangen universale Bedeutung. Es entsteht ein Einfluss von Ideen und Praktiken der Dritten Welt auf scheinbar dominante Gesellschaften und Regionen. Lokale Kulturen haben dabei einen weltweiten Einfluss. Es herrscht Vielfalt auf lokaler Ebene, das lokale kann mithin als Mikroerscheinungsform des Globalen angesehen werden. Bleibt die Frage, wo Heimat zu finden ist (a.a.O., S. 213-214). Die Nationalstaaten lernen selektiv von anderen, dies führt zu unterschiedlicher Mischung fremder Ideen die sie verkörpern und es entstehen hybride Nationalkulturen (a.a.O., S. 217).

4.2   Giddens

Die Institutionen des Nationalstaates verlieren im Zuge der Radikalisierung der Moderne ihre Kohärenz. lokales Handeln führt zu Auswirkungen mit weltumspannenden Distanzen. Die Nationalstaaten büßen durch zwischengesellschaftliche Kontakte an Souveränität und Identität ein. Es entstehen transnationale Konsum-, Wert- und Geschmacksgemeinschaften, die sich über Lebensstile, Markenidentitäten und Weltanschauungen definieren (Lamla 2003, S. 104-106).

Die genannte Entkoppelung von Raum und Zeit führt – am Beispiel des internationalen Börsenhandels – zu einer Aufhebung von Grenzen der Nationalstaaten (a.a.O., S. 107).

Giddens unterstellt den Institutionen der Nationalstaaten Möglichkeiten zu einem totalitären Umschlag in der Regierungsform. Dies wird ermöglicht durch die Fähigkeit des Staates, seine Mitbürger zu überwachen und erfolgreich zu beeinflussen, begleitet durch Monopolisierung der Gewaltmittel und innere Pazifizierung der Gesellschaft (a.a.O., S. 114). Für Giddens erscheint der Nationalstaat heute als zu klein für die großen Probleme und zu groß für die kleinen

Probleme (ebd.). Das globale Großrisiko liegt für Giddens in einem Zerfall der staatlichen Souveränität. Als Anzeichen hierfür gelten Konflikte, die über nationalstaatliche Grenzen hinauslaufen, wie zum Beispiel auf dem Balkan oder in Afrika (ebd.).

Giddens markiert Tendenzen, die eine Abhängigkeit zwischen lokalen Ereignissen und weltweiten Auswirkungen ausmachen. In den Nationalstaaten werden nationalistische Gefühle abgeschwächt, aber es kann gleichzeitig auch eine Stärkung nationalistischer Empfindungen stattfinden, die eher ortsgebunden ist. Der Druck auf die lokale Autonomie und regionale kulturelle Identität wird durch eine laterale Ausdehnung sozialer Beziehungen stärker (Giddens 1996, S. 86). Die Globalisierung in ihrem dialektischen Charakter führt jedoch nicht dazu, dass alle Nationalstaaten ihre Souveränität im Zuge der Entwicklungen verlieren. Stattdessen führt Souveränitätsverlust – bei einigen Staaten begründet durch Bündnisse, Kriege oder verschiedene Arten politischer und ökonomischer Veränderungen – zu einem Gewinn an Autonomie anderer Staaten. Nach Giddens hat die globale Arbeitsteilung, die sich in den letzten 30 Jahren entwickelt hat, zu einem Verlust an Autonomie geführt, während fernöstliche Länder an Autonomie hinzugewonnen haben (a.a.O., S. 89). Die Grenzen der Nationalstaaten werden nach Giddens durch den weltweiten Kapitaltransfer überstiegen (Giddens 2001, S. 20).

Der Kapitalismus allein -wie in Wallersteins Weltsystemtheorie – bestimmt nach Giddens jedoch nicht die weltweiten Entwicklungen. Die Verflechtung der Nationalstaaten bildet für Giddens die Organisation der Weltwirtschaft. Kapitalistische Staaten, welche Giddens als Staaten beschreibt, in denen kapitalistische Wirtschaftsunternehmen die wichtigste Produktionsform darstellen, werden als Hauptzentren der weltwirtschaftlichen Macht identifiziert. Die institutionelle Organisation dieser Staaten sorgt zwar für eine gewisse Form der Regelung wirtschaftlicher Aktivitäten, trotzdem ist eine Isolierung vom politischen Bereich vorhanden. Dadurch erlangen Unternehmen einen Spielraum, um sich über die Grenzen des Nationalstaates hinaus engagieren zu können. Der Einfluss von Unternehmen auf die Politik ist dabei nicht zu unterschätzen. Der Staat hat jedoch weiterhin die Kontrolle über Mittel zur Gewaltanwendung, was ihn gegenüber den kapitalistischen Unternehmen mächtiger erscheinen lässt. Diese Machtkontrolle über bestimmte Regionen der Erdoberfläche bleibt nach Giddens auch in einer globalisierten Weltgesellschaft für die Nationalstaaten erhalten und wird nicht in Hände von Industrieunternehmen abgegeben.

Nationalstaaten sind in der politischen Globalordnung die wichtigsten Aktoren, während Unternehmen die vorherrschenden Handlungsinstanzen im Rahmen der Weltwirtschaft darstellen.

Die entwickelten Nationalstaaten bleiben – egal ob kapitalistisch oder staatssozialistisch – auf industrielle Produktion angewiesen, um Wohlstand zu erzeugen, den sie mit Steuern belegen können. Sozialistische Staaten stellen in einer globalisierten Welt eine Enklave dar, in der die Industrie der politischen Befehlsgewalt unterliegt. Alle Staaten streben Wachstum an, was dazu führt, dass in der Politik der Staaten ökonomische Interessen im Vordergrund stehen (a.a.O., S. 92- 95). Der Einfluss der Nationalstaaten in der globalen Weltordnung ist nach Giddens von ihrem Wohlstand in Kombination mit militärischer Stärke abhängig. Sie leiten ihre Macht von der Wahrnehmung ihrer souveränen Möglichkeiten her. Sie verhalten sich wie Aktoren, die eifersüchtig über ihre territorialen Rechte wachen (a.a.O., S. 95). Die Existenz von Nationalstaaten erzeugt Reflexivität, da Grenzen anderer Staaten anerkannt werden müssen, was die eigene Autonomie einschränkt (ebd.). Daraus ergeben sich internationale Beziehungen.

Die Nationalstaaten sind für die Dialektik der Globalisierung verantwortlich, in dem zwischen der Zentralisierungstendenz einerseits und der Souveränität der Einzelstaaten gekämpft wird.

Gemeinschaftlich abgestimmtes Handeln bedeutet Aufhebung der individuellen Souveränität wobei der Einfluss innerhalb des Staatensystems steigt. Die UNO ist ein Ausdruck von globalem Einfluss: lokale Konflikte erzeugen globale Interventionen (a.a.0., S. 96-98).

Es herrscht ein Ungleichgewicht zwischen den Industrieländern und der Dritten Welt, dadurch dass die Industrienationen größeren Einfluss auf die Weltpolitik haben. Die Auswirkungen der Globalisierung werden in allen Ländern spürbar. Es erfolgt eine umgekehrte Kolonialisierung: nicht-westliche Länder beeinflussen die Vorgänge im Westen, z.B. brasilianische Fernsehsendungen. Zwischen den Nationalstaaten bestehen keine Handelsbeschränkungen mehr, die Nationalstaaten sind aber weiterhin mächtig, ihre politische Bedeutung bleibt erhalten (Giddens 2001, S. 28-30). Die nationale Wirtschaftspolitik ist jedoch nicht mehr effektiv, es ist ein Nachdenken über ihre Identität erforderlich da überkommene Formen und Strategien der Weltpolitik obsolet werden. Feinde gibt es für die Nationalstaaten in der globalisierten Welt nach Giddens ebenfalls nicht mehr, stattdessen sehen sie sich Gefahren und Risiken ausgesetzt, was zu einer tiefgreifenden Umgestaltung führt. Die Institutionen sind in allen Nationalstaaten verändert, sie sind nur noch Hüllen und die ihnen zugewiesenen Aufgaben können nur noch unzulänglich erfüllt werden (a.a.O., S. 30- 31).

Der Kapitalismus ist nicht länger an die Nationalstaaten gebunden, sondern es ergibt sich eine kapitalistische Weltwirtschaft. Ebenso finden Informationskontrolle und soziale Überwachung in internationalem System der Nationalstaaten statt. Die inner-territoriale Autonomie der einzelnen Staaten wird von anderen Staaten anerkannt. Die Dialektik der Nationalstaaten befindet sich zwischen Territorialansprüchen und der Tendenz zur Zentralisierung (Kron 2000, S. 203).

Nach Giddens verlieren die Nationalstaaten einen Teil ihrer gewohnten wirtschaftlichen Macht. Gleichzeitig führt die Globalisierung dazu, dass Forderungen nach lokaler Selbstständigkeit wieder lauter werden. Die regionalen Kulturen erleben eine Art Renaissance.

Durch den Verlust der Macht bei den älteren Nationalstaaten gewinnen separatistische Bewegungen an Aufwind. Es entstehen neue

Wirtschafts- und Kulturzonen sowohl innerhalb der Nationalstaaten als auch über deren Grenzen hinweg (Giddens 2001, S. 24-25).

5.      Zusammenfassung

Während Giddens zum sogenannten Homogenitätsdiskurs der Globalisierungstheoretiker gehört, lehnt Robertson sowohl den Heterogenitätsdiskurs als auch den Homogenitätsdiskurs ab und spricht stattdessen von Glokalisierung als Form der Globalisierung.

Vergleicht man die beiden Globalisierungstheoretiker Robertson und Giddens, so fällt zunächst auf, dass sich beide von Wallersteins Weltsystemtheorie abgrenzen. Beide Theoretiker sehen vielfältigere Gründe für das Phänomen der Globalisierung als allein kapitalistische Gründe wie bei Wallerstein. Während Giddens die Transformation der Institutionen der Moderne in Begleitung einer Entkoppelung von Raum und Zeit als Auslöser und Wegbereiter der globalisierten Welt betrachtet, vollzieht sich für Robertson eine Verknüpfung von lokalen und globalen Merkmalen im globalen Feld. Beide Ansätze haben einen strukturtheoretischen Ausgangspunkt, der sich bei Parsons verorten lässt.

Giddens sieht in der Intensivierung sozialer Beziehungen eine Ursache für das Fortschreiten der Globalisierung. Indem er die neuen Informations-, Kommunikationsmittel und Massenverkehrsmittel als Ursprung identifiziert, liefert er im Gegensatz zu Robertson eine Ursachenerklärung für Globalisierung.

Für die Individuen bringt die Globalisierung nach Giddens zwar Aufklärung, jedoch verbreitet sich zunehmende Skepsis gegenüber dem technologischen Fortschritt und damit verbundenen Expertenwissen. Die Individuen sind in Giddens Ansatz gezwungen, Entscheidungen vor einem Horizont ungewisser Zukunft zu treffen. Diese Entscheidungen reichen bis in die Privatsphäre. Angesicht dieser Herausforderungen fühlen sich die Individuen machtlos, was jedoch

nach Giddens kein persönliches Unvermögen ist, sondern die Mängel der Institutionen widerspiegelt. Die Institutionen der Nationalstaaten verlieren bei Giddens ihre Kohärenz, die Staaten büßen an Souveränität ein, Grenzen werden durch die Entkoppelung von Raum und Zeit aufgehoben. Der Nationalstaat bei Giddens ist zu klein für die großen Probleme und zu groß für die kleinen Probleme.

Robertson beschreibt für die Individuen eine Veränderung des Bewusstseins und zielt damit nicht auf materialistische Aspekte von Globalisierung ab. Der Welt als Ganzer liegt die Strukturierung in global-lokal zugrunde, was einer Re-Lokalisierung anstelle eines Weiter-So-Traditionalismus entspricht als Antwort auf Globalisierung. Für die Nationalstaaten findet sich in Robertsons Ansatz eine zunehmende wechselseitige Abhängigkeit gepaart mit dem Verlust der Informations- und Steuerhoheit. Transkulturelle Nachbarschaften blühen auf zulasten direkter, was dazu führt, dass sich die Staaten entscheiden müssen, ob sie auf Abschottung oder Neubestimmung setzen. Es bleibt die Frage, wo Heimat zu finden ist, wenn das Lokale als Mikroerscheinung des Globalen angesehen werden kann.

Während Giddens ein eher hilflos ausgeliefertes Individuum beschreibt, das mit den in der reflexiven Moderne zu treffenden Entscheidungen überfordert ist, zeichnet sich bei Robertson die Chance auf eine neue Verortung der conditio humana in einer sich globalisierenden Welt (im global field) ab. Transkulturalität wird sowohl bei Giddens als auch bei Robertson mit zunehmender Bedeutung versehen, während in beiden Ansätzen die Nationalstaaten an Bedeutung verlieren zugunsten internationaler Verflechtungen. Positiv erscheint bei beiden Theoretikern der Ansatz einer differenzierten Analyse der Ursachen des Globalisierungsprozesses ohne einseitige Vorverurteilung des Kapitalismus als Wurzel allen Übels.

Martina Wehling, M.A., Bremen, Germany, Datum der Veröffentlichung 04.10.2023, Erste Version aus 2009, geringfügig überarbeitet 10/2023.

Literatur

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Beck, Ulrich. (Hg.). 1998: Perspektiven der Weltgesellschaft. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag.

Dürrschmidt, Jörg. 2002: Globalisierung. 2., unveränderte Aufl. Bielefeld: Transcript-Verlag.

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Giddens, Anthony. 1996: Konsequenzen der Moderne. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag.

Giddens, Anthony. 2001: Entfesselte Welt. Wie die Globalisierung unser Leben verändert. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag (Edition Suhrkamp).

Kron, Thomas. 2000: Die Fahrt mit dem Dschagannath-Wagen – Anthony Giddens‘ „Konsequenzen der Moderne“. In: Schimank, Uwe/ Volkmann, Ute (Hg.): Soziologische Gegenwartsdiagnosen 1. Opladen: Leske+Budrich Verlag, S. 199-213.

Lamla, Jörn. 2003: Anthony Giddens. Frankfurt am Main: Campus Verlag.

Miebach, Bernhard. 2006: Soziologische Handlungstheorie. Eine Einführung. 2., grundlegend überarbeitete und aktualisierte Auflage. Wiesbaden: VS Verlag.

Möbius, Stephan/ Quadflieg Dirk (Hg.). 2006: Kultur. Theorien der Gegenwart. Wiesbaden: VS Verlag.

Robertson, Roland. 1992: Globalization. Social theory and global culture. London, Thousand Oaks, New Delhi: SAGE Publications.

Robertson, Roland. 1998: Glokalisierung: Homogenität und Heterogenität in Raum und Zeit. In: Beck, Ulrich. (Hg.): Perspektiven der Weltgesellschaft. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag, S. 192- 220.

Schimank, Uwe/ Volkmann, Ute (Hg.): 2000. Soziologische Gegenwartsdiagnosen 1. Opladen: Leske+Budrich Verlag.

Treibel, Annette/ Karte, Hermann. 2004: Einführung in soziologische Theorien der Gegenwart. 6., überarbeitete und aktualisierte Auflage. Wiesbaden: VS Verlag.