Warum neutrale Sprache im Bildungsbereich als problematisch angesehen werden kann

Das Konzept des Gender Mainstreamings entstand Ende der 1990er Jahre im Rahmen des Vertrages von Amsterdam und wurde zum Ziel der Europäischen Kommission erklärt.

Angenommen man würde im deutschen Schulsystem zu einer wie im schwedischen Sprachstil begründeten geschlechtsneutralen Sprache übergehen, welche Rolle würde Geschlecht dann bei der Erziehung und Bildung von Kindern einnehmen? Wären die gesamten Diskussionen der letzten 30 Jahre um Mono- oder Koedukation überflüssig gewesen? Ebenso wie die Mädchenbildung der 1980er Jahre? Bräuchte die Schulpädagogik kein Konzept der Reflexiven Koedukation wie es Prof. Dr. Hannelore Faulstich-Wieland Anfang der 1990er für Schule entworfen hat? All dies sind zentrale Fragen, die es m.E. zu diskutieren gilt, wenn es um die Modernisierung von Schule gehen soll. Die alleinige Forderung nach weiterer finanzieller Ausstattung bereits inhaltlich überholter Schulmodelle sowie die Vergabe von empirischen Studien die seit Jahren bestätigen, dass Bildungserfolg in Deutschland von der sozialen Herkunft abhängt, sollte m. E. hinter die Frage treten, wie wir eigentlich Mädchen und Jungen bilden und erziehen wollen: geschlechtergerecht oder geschlechtsneutral? Faulstich-Wieland plädiert für die Dramatisierung und Entdramatisierung von Geschlecht im Unterricht (vgl. Faulstich-Wieland, 1999-2006), ohne jedoch einen für die Lehrerinnen und Lehrer vorgegebenen Orientierungsrahmen zu bieten. Wie kann im Schulalltag vermieden werden, durch Dramatisierung oder Entdramatisierung eine erneute Reproduktion von Geschlechtsrollenstereotypen zu erzeugen? 

Beispiel: „Heute werden die Mädchen und die Jungen getrennten Unterricht in Informatik bekommen“. Was suggeriert diese Aussage von Lehrkräften den jeweiligen Geschlechtern ? Warum werden die Schülerinnen und Schüler getrennt? Wer hat welches Lerndefizit? Mit welcher bildungstheoretischen Begründung wird die zeitweilige Trennung der Geschlechter vorgenommen? Und warum gerade in diesem Fach?

Gibt es Homogenitäten unter Mädchen und Jungen, die pädagogisch relevant sind? Wie sehen diese aus? Sind sie empirisch nachweisbar? 

Für die Ausgestaltung von Schule auf europäischer Ebene ergibt sich meines Erachtens folgende Frage:
Ist Geschlecht im Unterricht wirklich zu vernachlässigen angesichts der Differenzen im Bildungserfolg von Mädchen und Jungen, der Einmündung in den Arbeitsmarkt, der Aufteilung von Erwerbs- und Carearbeit, des Erfolgs am Arbeitsmarkt, des Gender Pay Gap? In verschiedenen schwedischen Elementar- und Schulmodellen gibt es Ansätze, alle sogenannten bestimmten Artikel (der, die, das) zu vernachlässigen und die Kategorie Geschlecht im Unterricht und auch in Kindertageseinrichtungen unerwähnt zu lassen. Begriffe werden nur im Substantiv beschrieben, um so geschlechtliche Konnotationen zu vermeiden. Übertragen auf die deutsche Sprache würde man in der Schule nicht mehr „die Katze“ sagen, sondern „Katze“.

Welche Konsequenzen hätte dies für den Spracherwerb von Kindern und den Verlauf von Kommunikation, insbesondere für die Kommunikation zwischen Erzieher und Zögling? Zwischen Lehrer und Schüler? 

Geschlecht aus dekonstruktivistischer Perspektive – noch relevant für den Bereich Bildung? Und wenn ja, wofür?

Martina Wehling M.A., Bremen, Datum der Veröffentlichung 04.08.2023

 

Literaturverzeichnis

Faulstich-Wieland, Hannelore; Horstkemper, Marianne. 1995. Trennt uns bitte, bitte, nicht! Koedukation aus Mädchen- und Jungensicht. Opladen: Leske + Budrich Verlag

Faulstich-Wieland, Hannelore. 1999. Koedukation heute – Bilanz und Chance. In: Horstkemper, Marianne; Kaul, Margret (Hg.). Koedukation. Erbe und Chancen. Weinheim: Deutscher Studien Verlag, S. 124-135.

Faulstich-Wieland, Hannelore; Weber, Martina; Willems, Katharina; Budde, Jürgen. 2004. Doing Gender im heutigen Schulalltag. Empirische Studien zur sozialen Konstruktion von Geschlecht in schulischen Interaktionen. Weinheim und München: Juventa Verlag GmbH (Veröffentlichungen der Max-Träger-Stiftung, Band 39).

Faulstich-Wieland, Hannelore. 2004. Doing Gender: Konstruktivistische Beiträge. In: Glaser, Edith; Klika, Dorle; Prengel, Annedore (Hg.). Handbuch Gender und Erziehungswissenschaft. Bad Heilbronn: Julius Klinkhardt Verlag. S. 175-191.

Faulstich-Wieland, Hannelore. 2006. Reflexive Koedukation als zeitgemäße Bildung. In: Otto, Hans-Uwe; Oelkers, Jürgen; Bollweg, Petra (Hg.). Zeitgemäße Bildung. Herausforderung für Erziehungswissenschaft und Bildungspolitik. München: Reinhardt Verlag. S. 261-274.